Narzissmus ist ein weit verbreitetes Phänomen, das viele Facetten hat und in verschiedenen Lebensbereichen auftreten kann. Doch was verbirgt sich genau hinter diesem Begriff, und wie erkennt man die unterschiedlichen Formen? In diesem Artikel beleuchten wir die Entstehung, die Auswirkungen und die verschiedenen Typen von Narzissmus sowie dessen Vorkommen in Familie, Beruf und Beziehungen.

In unserer Gesellschaft wird Narzissmus oft verkannt und verharmlost. Viele denken bei Narzissmus an übermäßiges Selbstbewusstsein und Eitelkeit, ohne die tieferliegenden, schädlichen Auswirkungen zu erkennen. Aussagen wie „Das hätte ich nie gedacht“ oder „Stell dich nicht so an, der meint es doch gut mit dir“ sind symptomatisch für dieses Missverständnis. Diese oberflächlichen Ansichten übersehen die zerstörerische Kraft, die Narzissmus entfalten kann. Um das Ausmaß zu verdeutlichen, kann man Narzissmus mit einem Eisberg vergleichen: Sichtbar sind nur die guten Eigenschaften wie Charme und Selbstbewusstsein, doch verborgen unter der Wasseroberfläche liegen Manipulation, Kontrollzwang und emotionaler Missbrauch. Diese unsichtbaren Aspekte können das Leben der Betroffenen nachhaltig zerstören. Es ist an der Zeit, diese gefährliche Dynamik zu entlarven und ein tieferes Verständnis für die wahren Auswirkungen von Narzissmus zu entwickeln.

Man muss beachten, dass nur etwa 6 % aller Menschen weltweit von einer echten narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) betroffen, welche die Kriterien der ICD-10 erfüllen müssen. Häufig ist es so, dass Personen einige Züge dieser Persönlichkeitsstörung in sich haben, diese aber nicht so ausgeprägt sind, dass sie diagnostisch unter die NPS fallen. 


Definition eines Narzissten (Grobformel):

Ein Narzisst muss (vereinfacht) vier Bedingungen erfüllen, um als solcher bezeichnet zu werden:

  1. Egoismus: Ein Narzisst ist ein Egoist. Er schaut nur für sich selbst, die anderen interessieren ihn überhaupt nicht. Er verfolgt seine Ziele rücksichtslos und geht dabei über Leichen.

  2. Egozentrik: Alles dreht sich um ihn. Er ist die wichtigste Person für sich selbst und überzeugt, dass er auch für andere die wichtigste Person ist. Das macht ihn hochempfindlich. Wenn etwas nicht klappt, glaubt er, dass andere ihn absichtlich sabotiert haben, was zu cholerischen Ausbrüchen führen kann.

  3. Machtstreben: Ein Narzisst ist ein Machtmensch, der alles unter Kontrolle haben möchte. Er will wissen, wo du bist, mit wem du sprichst, und kontrolliert deine Kommunikation. Was anfangs wie Interesse erscheint, ist tatsächlich ein Kontrollbedürfnis.

  4. Fehlende Empathie: Ein Narzisst interessiert sich nicht wirklich für andere. Wenn er es tut, dann nur, um seine Macht zu erweitern. Wirklich mitfühlen kann er nicht.

Ein Narzisst hat ein externes Bild von sich, das er selbst kreiert hat oder das ihm aufgedrückt wurde. Die Wissenschaft ist sich nicht einig, ob dies genetisch bedingt oder eine frühkindliche Prägung ist. Fakt ist, dass der Narzisst alles dafür tut, um diesem Bild gerecht zu werden. Er hat keinen Kontakt zu sich selbst und spürt sich nicht. Deshalb kann er so brutal und hart sein.


Die internationale Definition der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) nach ICD-10 

Für die Diagnose einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) gemäß der ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation) müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Die ICD-10 listet die NPS unter den spezifischen Persönlichkeitsstörungen auf. Die Diagnose erfordert das Vorliegen eines anhaltenden Musters von grandioser Selbstwahrnehmung, einem starken Bedürfnis nach Bewunderung und einem Mangel an Empathie, das in verschiedenen Kontexten beginnt und im frühen Erwachsenenalter sichtbar wird.


ICD-10 Kriterien für die Narzisstische Persönlichkeitsstörung (überholt - laut ICD-11 keine Persönlichkeitsstörung mehr):
  1. Grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (z.B. übertreibt Leistungen und Talente, erwartet ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden).

  2. Fantasien von grenzenlosem Erfolg, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.

  3. Glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder hochgestellten Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.

  4. Benötigt exzessive Bewunderung.

  5. Hat ein ausgeprägtes Anspruchsdenken (d.h., übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen).

  6. Ist ausbeuterisch in zwischenmenschlichen Beziehungen (d.h., zieht Nutzen aus anderen, um eigene Ziele zu erreichen).

  7. Mangel an Empathie: ist nicht bereit, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.

  8. Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie.

  9. Zeigt arrogante, hochmütige Verhaltensweisen oder Haltungen.

Diese Symptome müssen so ausgeprägt sein, dass sie zu einer deutlichen Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen. Außerdem dürfen sie nicht durch eine andere psychische Störung oder durch Substanzmissbrauch erklärt werden können.

Diagnoseprozess:

Ein erfahrener Psychiater oder Psychologe wird in der Regel eine umfassende klinische Bewertung durchführen, die eine gründliche Anamnese, Interviews und gegebenenfalls standardisierte Fragebögen oder Tests umfasst. Die Diagnose sollte immer in einem klinischen Kontext erfolgen und auf einer umfassenden Beurteilung des gesamten Verhaltensmusters und der damit verbundenen Auswirkungen auf das Leben des Betroffenen basieren.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Diagnose einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung komplex ist und nicht auf einer einmaligen Beobachtung oder Selbstdiagnose basieren sollte. Eine professionelle Beurteilung ist entscheidend, um eine genaue und angemessene Diagnose zu stellen.

Fragetest für Opfer von Narzissten

Bitte beantworte die folgenden Fragen mit "Ja" oder "Nein". Dieser Test stellt keine Diagnose dar, sondern kann ein Indiz dafür sein, ob man es mit einem Narzissten/einer Narzisstin zu tun hat.


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Ja
Nein


Shmuel ("Sam") Vaknin (geb. 21. April 1961) ist ein bekannter israelischer Forscher und Autor auf dem Gebiet des Narzissmus und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPD). Seine Arbeiten und Thesen haben maßgeblich dazu beigetragen, das Verständnis von Narzissmus zu vertiefen. Hier sind einige seiner wichtigsten Beiträge und Erkenntnisse.


Ursprung und Entwicklung des Narzissmus nach Sam Vaknin

Sam Vaknin vertritt die Ansicht, dass Narzissmus häufig als Reaktion auf frühe Kindheitstraumata und unsichere Bindungen entsteht. Diese Theorie besagt, dass Kinder, die emotional vernachlässigt oder missbraucht wurden, narzisstische Abwehrmechanismen entwickeln, um sich selbst zu schützen. Diese Mechanismen beinhalten die Schaffung eines „falschen Selbst“, das omnipotent und allwissend erscheint, um die inneren Unsicherheiten und das Gefühl der Wertlosigkeit zu kompensieren (Vaknin Talks / Vaknin Talks).

Die Rolle von Kindheitstraumata

Vaknin argumentiert, dass frühe traumatische Erfahrungen, wie Vernachlässigung oder Missbrauch durch Eltern, eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Narzissmus spielen. Diese Traumata führen dazu, dass das Kind eine ungesunde Bindung und ein verzerrtes Selbstbild entwickelt. Das „falsche Selbst“ dient als Schutzschild gegen die emotionalen Schmerzen und die Unsicherheiten, die durch diese Traumata verursacht werden. Der Narzisst entwickelt grandiose Fantasien und ein überhöhtes Selbstbild, um das innere Gefühl der Minderwertigkeit zu kompensieren.

Sekundärer Narzissmus und Anpassung

Vaknin unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Narzissmus. Primärer Narzissmus ist ein natürlicher Entwicklungszustand in der frühen Kindheit, während sekundärer Narzissmus eine Anpassungsstrategie ist, die als Reaktion auf traumatische Erfahrungen entwickelt wird. Sekundärer Narzissmus dient der Anpassung und dem Überleben, indem er dem Individuum hilft, Kontrolle über seine Umwelt zu erlangen und sich selbst als erfolgreich und wirksam wahrzunehmen (Vaknin Talks).

Genetische Veranlagung und familiäre Vorprägung

Es gibt jedoch auch Theorien, die darauf hinweisen, dass genetische Veranlagungen eine Rolle bei der Entwicklung von Narzissmus spielen können. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Narzissmus teilweise vererbbar sind. Studien an Zwillingen haben gezeigt, dass genetische Faktoren einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung narzisstischer Persönlichkeitsmerkmale haben können (Wikipedia).

Widersprüche und Synergien:

  1. Genetik versus Umwelt: Während Vaknin stark die Rolle von Kindheitstraumata und familiären Bindungsmustern betont, widersprechen einige genetische Studien dieser Theorie, indem sie zeigen, dass genetische Faktoren ebenfalls signifikant sind. Die Frage bleibt, wie stark die genetische Veranlagung im Vergleich zu den Umwelteinflüssen ist.

  2. Interaktion von Genetik und Umwelt: Eine mögliche Synergie zwischen diesen Theorien könnte in der Annahme bestehen, dass genetische Veranlagungen die Anfälligkeit für narzisstische Störungen erhöhen, während traumatische Kindheitserfahrungen diese Anlagen aktivieren und verstärken. Diese Interaktion zwischen Genetik und Umwelt könnte erklären, warum manche Menschen trotz ähnlicher Umwelteinflüsse keine narzisstischen Züge entwickeln, während andere dies tun.

  3. Epigenetik: Ein weiterer Erklärungsansatz ist die Epigenetik, die untersucht, wie Umweltfaktoren genetische Expressionen beeinflussen. Traumatische Erlebnisse in der Kindheit könnten epigenetische Veränderungen hervorrufen, die narzisstische Persönlichkeitsmerkmale begünstigen. Dies würde erklären, wie Umweltfaktoren und genetische Prädispositionen zusammenwirken können, um Narzissmus zu entwickeln.

Schlussfolgerung

Vaknins Theorien über die Entwicklung des Narzissmus als Reaktion auf Kindheitstraumata bieten wichtige Einblicke in die Entstehung dieser Persönlichkeitsstörung. Allerdings zeigen Forschungen, dass genetische Veranlagungen ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen können. Eine umfassende Sichtweise, die sowohl genetische als auch umweltbedingte Faktoren berücksichtigt, bietet wahrscheinlich das vollständigste Verständnis für die komplexen Mechanismen hinter der Entwicklung von Narzissmus. Durch das Zusammenspiel dieser Faktoren wird klar, dass die Entstehung narzisstischer Persönlichkeitsmerkmale ein multifaktorieller Prozess ist, der sowohl genetische Prädispositionen als auch frühkindliche Erfahrungen umfasst.


Konzept der „geteilten Fantasie“

Ein zentrales Konzept in Vaknins Arbeiten ist die „geteilte Fantasie“. Hierbei idealisieren sich der Narzisst und sein Partner gegenseitig, wobei der Partner oft als eine idealisierte Mutterfigur wahrgenommen wird. Diese Beziehung ist stark von den frühen Kindheitsdynamiken geprägt, die der Narzisst zu wiederholen versucht. Die geteilte Fantasie führt zu einer Co-Idealisierung, in der beide Parteien unerfüllte emotionale Bedürfnisse kompensieren (Vaknin Talks).


Typen des Missbrauchs

Vaknin unterscheidet zwischen zwei Arten von Missbrauch in narzisstischen Beziehungen:

  1. Unbewusster Missbrauch: Hier testet der Narzisst den Partner, um sicherzustellen, dass dieser die Rolle der „guten Mutter“ übernehmen kann, die ihn bedingungslos liebt, unabhängig von seinem Verhalten.

  2. Bewusster Missbrauch: Dieser tritt auf, wenn der Narzisst den Partner bewusst quält, um ihn wegzustoßen, nachdem dieser als Quelle negativer narzisstischer Zufuhr wahrgenommen wird (Vaknin Talks).

Behandlung von Narzissmus: „Cold Therapy“

Vaknin entwickelte eine Behandlungsform namens „Cold Therapy“, die NPD und Depression als Formen von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (C-PTSD) und gestörter Bindung betrachtet. Diese Therapieform zielt darauf ab, die tiefliegenden emotionalen Verletzungen zu bearbeiten, die zur Entwicklung des Narzissmus geführt haben. Sie verwendet Methoden der Re-Traumatisierung und des „Reframings“, um die Wahrnehmung des Selbst zu verändern und Heilung zu ermöglichen (Wikipedia).


Narzissmus und gesellschaftlicher Einfluss

Vaknin argumentiert, dass Narzissten häufig in einflussreichen Bereichen wie Medizin, Finanzen und Politik zu finden sind. Dies führt zu einer Manifestation von kollektivem Narzissmus, der sich negativ auf gesellschaftliche Strukturen auswirkt. Narzissten in diesen Positionen nutzen ihre Macht oft, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, was zu einem schädlichen Einfluss auf die Gesellschaft führt (Wikipedia).


Fazit

Sam Vaknins Forschungen bieten tiefe Einblicke in die Mechanismen und Auswirkungen des Narzissmus. Seine Theorien und Behandlungsmethoden zielen darauf ab, die Wurzeln des Narzissmus zu verstehen und effektive Wege zur Heilung zu finden. Durch das Verständnis der „geteilten Fantasie“, der verschiedenen Missbrauchsarten und der komplexen Dynamiken in narzisstischen Beziehungen können Therapeuten und Betroffene besser mit den Herausforderungen umgehen, die durch narzisstisches Verhalten entstehen.